Was ist Gott?
28/08/2021

Auszug aus einem Interview mit Thomas Keating, erschienen in „Reflections on the Unknowable“ (Lantern Books, 2014), jetzt neu erschienen im Newsletter von Contemplative Outreach (ins Deutsche übersetzt von Christian Tröster)

Der Interviewer Rick Archer ist ein Journalist, der sich dem Thema Spiritualität und Erwachen gewidmet hat. Auf seiner Website „Buddha at the Gaspump“ führt er regelmäßig Interviews mit spirituellen Lehrern und Wissenschaftlern. www.batgap.com

Rick Archer (RA):  Lassen Sie mich mit der grundlegendsten Frage beginnen: …. Bitte definieren Sie, was Sie unter Gott verstehen oder als Gott erleben. Was ist Gott? 
Thomas Keating (TK):  Das ist ein schwieriger Begriff im interreligiösen Dialog, denn es gibt so viele Vorstellungen von Gott wie es Menschen gibt. „Gott“ wurde ursprünglich in der hebräischen Bibel in Abgrenzung zu den anderen lokalen Göttern der verschiedenen Stämme verwendet…. Es wäre tatsächlich schöner, wenn wir ein anderes Wort für Gott hätten. Aber man kann es vermeiden, zu metaphysisch zu werden und einfach die hebräische Bibel zitieren: „Ich bin, der ich bin“ (Exodus 3:14) … Die beste Beschreibung Gottes ist also das „Ist-Sein“, ohne jede Einschränkung: „Ich bin“ ohne ein anderes Pronomen. Die Buddhisten haben gut daran getan, eine Haltung gegenüber dem ungeschaffenen Gott zu entwickeln, die sich vom Gott der Schöpfung oder dem Schöpfergott unterscheidet. Es ist natürlich derselbe Gott, aber Gott, wie ich den Begriff hier verwende, ist einfach ein Etikett. Es ist die Bezeichnung, an die ich in meiner Tradition gewöhnt bin…. Gott ist alles. 
RA: Es gibt seit geraumer Zeit ein Ringen zwischen Wissenschaft und Religion. Wann immer ich mir etwas Wissenschaftliches anhöre … eine Präsentation über Astronomie … oder einen Vortrag über Quantenphysik, dann höre und sehe ich Gott … Unendliche Kreativität steuert jedes subatomare Teilchen und lenkt gleichzeitig die Galaxien.
TK: Was die christliche Perspektive angeht, insbesondere die der Mystiker, haben Sie sicherlich recht. Aber natürlich ändert sich die Vorstellung von Gott, wenn das eigene Bewusstsein reift und man aufhört, Gott im Sinne einer Autorität zu betrachten. Die eine Art Abhängigkeit unterstellt, in der man sogar fordernde Haltungen Gott gegenüber einnimmt. Die Hauptsache ist, dass man eine große Vorstellung von Gott hat – riesig! Die Wissenschaft, das schließt sowohl deren mikroskopischsten als auch deren grandiosen astronomischen Aspekt ein, präsentiert uns eine neue Kosmologie, auf die die Religion Bezug nehmen sollte, insbesondere die christliche Tradition. Unsere Schriften beruhen auf einem Gottesbild, das patriarchalisch und durch die damalige Kultur begrenzt ist, und das funktioniert einfach nicht mehr. Die Theologie braucht eine solide Kosmologie, auf der eine Theologie aufbauen kann, die die Menschen unserer Zeit anspricht.
RA: Würden Sie sich wohlfühlen, die „All“-Adjektive für Gott zu verwenden: allgegenwärtig, allwissend, allmächtig? Passt das mit Ihrer Gotteserfahrung oder Ihrem intuitiven Verständnis von Gott zusammen?
TK: Ja, aber diese Attribute sind ein bisschen zu metaphysisch … weil Gott Aspekte hat, die jenseits der Vernunft liegen. Diese Aspekte lehnen die Vernunft nicht ab, aber die Vernunft ist nicht genug. Wie löst man zum Beispiel die Frage nach unendlicher Gerechtigkeit und unendlicher Barmherzigkeit? Auf der rationalen Ebene geht das nicht. Es bleibt ein Rätsel, ein Widerspruch. Man muss Bewusstsein öffnen und das rationale Konzept von Gott transzendieren. Nur durch die Erfahrung dieser transzendenten Gegenwart erkennt man, dass Gott in allem ist, ohne auf etwas beschränkt zu sein. Gott ist so dynamisch und expansiv wie der Wandel selbst, und das ist das, was unveränderlich ist. Die dynamische Vorstellung von Gott, die uns die evolutionäre Kosmologie (erst in den letzten fünfzig Jahren auf überzeugende Weise) vermittelt hat, ist die Offenbarung einer höheren Macht, in die wir eingetaucht und verschlungen sind und von der wir niemals getrennt sein können, weil wir in Wirklichkeit keine andere Identität haben als das, was im evolutionären Prozess entstanden ist. Die Schöpfung ist kein einmaliges Ereignis. Sie findet immer statt, in gewissem Sinne ist das Wesen Gottes immer im Werden. Was es wird? Es wird alles! Das menschliche Bewusstsein ist in Wirklichkeit Gott, der das menschliche Bewusstsein erfährt. Das bedeutet, dass wir eine Art Ikone Gottes sind, wie Bernard Lonergan es ausdrückte.